Unter anderem auf ein paar "knackige" und - so finde ich - recht kraftvolle Bilder, Analogien die der erfahrene und versierte Psychodrama-Therapeut Norbert Neuretter im Rahmen der Gruppenarbeit angeboten, "gezeichnet" hat. Eines davon, und zwar das Bild des "Dreck's zwischen den Zehen" werde ich euch im folgenden Artikel näher bringen. Es hat bereits vielen Kund:innen und mir selbst - immer wieder - gute Dienste erwiesen. Vielleicht wird es auch für dich ein nützlicher Haltegriff - "who knows".
Hören statt Lesen - OriginalWerk-PodcastMoreno und das Psychodrama
Zu Beginn ein wenig "Kontext" zur besseren "Einordnung". Falls du es eilig hast, kannst du diesen Abschnitt gerne überspringen - up to you: Psychodrama - altgriechisch "psychê" für "Seele" und "drāma" für "Handlung", "Vorgang" - ist eine in Österreich anerkannte Psychotherapie-Richtung, eine Methode, die den humanistischen Therapieverfahren zugeordnet wird. In Psychodrama-Gruppen ("Gruppensetting") stellen Teilnehmer:innnen ihre Themen, "ihre Probleme" mithilfe anderer Teilnehmer:innen, wie in einem Theaterstück szenisch auf einer Bühne, der sogenannten "Psychodrama-Bühne", dar. Situationen der Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft werden dadurch in einem "geschützten Rahmen" erlebbar gemacht. Durch das aktive "Nach- bzw. Neuspielen" erlangen die Teilnehmer:innen ein tieferes Verständnis für bestehende Konflikte, können "etwas neues ausprobieren", andere, hilfreichere Perspektiven einnehmen und Ihre Spontanität, Kreativität und Rollenflexibilität fördern, weiterentwickeln.
Der Begründer des Psychodramas - und der Soziometrie - Jacob Levy Moreno (1889 – 1974) war ein äußerst engagierter, "exzentrischer" und vielseitiger österreichischer Arzt, Psychiater und Soziologe, der schon als Kind leidenschaftlich Theater spielte und über sein großes Interesse am Stehgreiftheater auf die "therapeutische" Wirkung des "szenischen Handelns" stieß. Das Psychodrama entstand aus der Erkenntnis, dass "Menschen hauptsächlich durch Handeln und nicht durch Sprechen lernen. Vor allem Kinder begreifen die Welt im Spiel, indem sie Erwachsene nachahmen." (Dobmeier, 2021). Dazu beispielhaft eine witzige und bezeichnende Anekdote aus Moreno's Autobiografie. Moreno war damals vier Jahre alt und lebte mit seiner Familie in Bukarest: „An einem Sonntagnachmittag gingen meine Eltern Freunde besuchen. Ich blieb zu Hause, um mit einigen Nachbarskindern zu spielen. Wir waren im Keller unseres Hauses, einem großen, bis auf einen riesigen Eichentisch in der Mitte, leeren Raum. Beim Versuch, ein Spiel auszudenken, kam ich auf die Idee: ‘Lasst uns Gott und seine Engel spielen!’ ‘Aber wer soll Gott spielen?’ ‘Ich bin Gott und ihr seid meine Engel’, erwiderte ich. Die anderen Kinder stimmten zu. ‘Wir müssen zuerst die Himmel bauen’, erklärte eins der Kinder. Wir schleppten Stühle aus dem ganzen Haus in den Keller, stellten sie auf den großen Tisch und begannen, einen Himmel nach dem anderen zu bauen, indem wir mehrere Stühle auf einer Ebene zusammenbanden und weitere Stühle darauf stellten, bis wir die Decke erreichten. Dann halfen mir alle Kinder, auf den obersten Stuhl zu klettern, wo ich einigermaßen sitzen konnte. Die Kinder gingen dann singend um den Tisch herum, wobei sie ihre Arme als Flügel benutzten. Ein oder zwei der größeren Kinder hielten den Berg von Stühlen fest, den wir zusammengetragen hatten. Plötzlich fragte mich eins der Kinder: ‘Warum fliegst du nicht?’ Ich breitete meine Arme aus und versuchte es. Auch die Engel, die die Stühle hielten, flogen davon. Einen Augenblick später fiel ich und fand mich mit gebrochenem rechten Arm auf dem Boden wieder. Das Psychodrama des gefallenen Gottes. Das war, soweit ich mich erinnern kann, die erste ‘private’ Psychodramasitzung, die ich jemals geleitet habe." (Marcus, 2013). Die Psychodrama-Gruppe
Unsere Gruppe bestand aus zehn bis zwölf Teilnehmer:innen, traf sich alle zwei Wochen für vier - intensive (!) - Stunden und hatte einen fixen phasenhaften Ablauf. Zu Beginn gab es eine "Aufwärmphase", wo wir miteinander ins Gespräch kamen, über "Erlebtes" berichteten und unsere Anliegen präsentierten. Danach begann die "Handlungsphase", wo wir ein Thema auswählten, um es "zu spielen". Die/der "Protagonist:in", Einbringer:in des Themas, "des Problems", setzte - mit Unterstützung des Psychodrama-Leiters und der Gruppe - "das Thema" auf der "Psychodrama-Bühne" in Szene. Mitspieler:innen, sogenannte "Hilfs-Ichs" wurden ausgewählt, um mit ihnen "das Thema" szenisch aufzubauen und "durchzuspielen". Als Protagonist:in erhältst du durch das "Durchspielen" neue Informationen, andere Perspektiven, kannst dein Thema, dein "Problem", noch einmal erleben, etwas (anderes) ausprobieren ("Probehandeln") und - so meine Erfahrung - recht wirksam "dazulernen". Zu guter Letzt - in der "Integrations-, Feedbackphase" - wurden die Erfahrungen des gemeinsamen Spiels, sowie die Wirkung der Inszenierung auf die eigene "persönliche Hintergrundbühne" miteinander geteilt: Was hat es bei einem selbst ausgelöst? Woran wurde Frau/mann erinnert? Was war für einen selbst hilfreich?
Regredieren
In der Gruppe - das folgende Fallbeispiel wird anonymisiert dargestellt - gab es eine Frau mittleren Alters, nennen wir sie in weiterer Folge "Agnes". Sie war beruflich sehr engagiert und hatte ihre eigene Steuerberatungskanzlei erfolgreich "hochgezogen". Agnes stammte aus einer "Arbeiterfamilie" und wuchs in eher "ärmlichen Verhältnissen" auf. Weiters kümmerte sie sich - wie sie zu sagen pflegte - "nebenbei" jahrelang um ihre schwer erkrankte Mutter und war ihrem Sohn trotzdem eine - so wie ich es damals wahrnahm - liebevolle, verantwortungsvolle und noch dazu alleinerziehende Mutter.
Eines Abends, während der "Aufwärmphase", schilderte Agnes, dass sie sich, wenn sie mit "Ihresgleichen", also mit Steuerberater:innen, in Kontakt kommt - zum Beispiel im Rahmen von "Branchen-Treffen" - überhaupt nicht gut fühlt. Sie hatte letztens wieder "so ein Treffen" und erlebte sich als unsicher, "klein und schwach". Das zeigte sich bei ihr dadurch, dass "intern" am laufenden Band Vergleiche mit den "anwesenden Anderen" angestellt wurden, Gedanken der "Minderwertigkeit" hochkamen und an ihrem Selbstwert "nagten". Sie hätte - entgegen ihren Vorsätzen - "wieder einmal" sehr zurückhaltend agiert und sich relativ rasch zurückgezogen, mit "ihrer Meinung" und letztendlich auch "physisch", indem sie die Veranstaltung vorzeitig und fluchtartig verließ. Danach schilderte Agnes ihre erlebte Irritation. Sie lag bis spät in die Nacht noch "grübelnd" im Bett, konnte nicht einschlafen und machte sich - wie schon so oft zuvor - starke Selbst-Vorwürfe: "Was war da wieder los mit mir? Wieso "gehe ich da so ein? Ich könnte mich ... ". Was war da los mit Agnes? Diese Zusammentreffen mit anderen Steuerberater-Kolleg:innen, diese äußere An- oder vielleicht sogar Über-Forderung, "Belastung" machte offensichtlich etwas mit, respektive in ihr. In der Psychodynamik findet sich mit dem Konzept der "Regression" ein mögliches Erklärungsmodell. Nach diesem wäre es möglich, dass Agnes kurzfristig und unbewusst auf ein "früheres psychisches Niveau, Geschehen" zurückgekehrt, "regrediert" ist. Ein schützender psychischer "Abwehr-, Regulationsprozess" als Reaktion auf erlebte äußere bzw. innere "Druck-, Konfliktsituationen". Dabei können frühere Verhaltensweisen, altbewährte "seelische Bewältigungsinstrumente" und Empfindungen in den Vordergrund treten (Auchter, 2003). Dieses "Rückfallen" auf "alte Entwicklungsstufen" kann natürlich irritieren, verwirren als unangenehm empfunden werden - und jedem von uns passiert das ab und an. Die Frage ist, wie könnte Agnes bzw. wie könnten wir, falls wir regredieren wieder "raus und rauf" kommen, in unsere "tatsächliche Entwicklungsstufe" zurückkehren und wieder auf alle verfügbaren persönlichen Ressourcen zurückgreifen - auf unsere volle Kompetenz. Stolz auf den Dreck?
Das "Thema" von Agnes wurde aufgegriffen, von ihr als Protagonistin inszeniert und "durchgespielt". In der anschließenden "Feedbackphase" meldeten nahezu alle anderen Teilnehmer:innen zurück, dass das Spiel in ihnen eine starke Resonanz erzeugt hätte, dass ihnen "dieses Regredieren" durchaus bekannt war, sie in bestimmten Lebens-Situationen ähnliche Erfahrungen gemacht hätten. Norbert, der Leiter der Psychodrama-Gruppe, ließ seinen Blick durch die Gruppe schweifen. Damit verbunden war eine lange, "spannungsaufbauende" Pause. Plötzlich stellte er uns allen eine - auf den ersten Blick - relativ seltsame, mit einem für uns schon gewohnten provokanten Unterton "gewürzte" Frage: "Seid ihr überhaupt stolz auf den Dreck zwischen euren Zehen?". In den "fiktiven Gedankenblasen" der Teilnehmer:innen war sichtlich abzulesen: "Was meint Norbert jetzt wieder damit? Stolz auf den "Dreck zwischen unseren Zehen"? Hmm!? Ein bisschen grauslich ist das schon irgendwie."
Norbert setzte fort und brachte "Licht ins Dunkel": Wenn ihr wo hingeht, zB auf ein Branchen-Treffen, wie steht ihr da eigentlich, wie geht ihr da rein? Auf einem Bein, humpelnd, wackelig? Nur mit dem einseitigen Blick auf "was ihr alles nicht seid", auf das "Defizitäre"? Oder steht ihr auf "beiden Beinen"? Stolz auf den "Dreck zwischen euren Zehen", auf euer "Bewältigtes". Würdigt ihr, was ihr euch bereits aufgebaut habt, mit viel Einsatz, "harter Arbeit" und trotz schwieriger Bedingungen. Seid ihr stolz auf das, was ihr schon "durchlebt", vielleicht sogar "überlebt" habt, welche "Bewältigungsstrategien" ihr entwickeln musstet und wer ihr geworden seid - mit allen Seiten von euch, auch mit den "Schwierigen"? Auf beiden Beinen stehen
Vielleicht kennt ihr dieses Erleben von Agnes auch von euch selbst: "Regressive Tendenzen", Selbst-Entwertungsprozesse ("Wer bin ich schon?"), ein "wackeliges" Stehen in den "Wir-Welten", in professionellen Gruppen-Settings, Meetings, etc.; wie geht es euch mit dem Bild und der Frage von Norbert: Könnt ihr (schon) stolz auf den "Dreck zwischen euren Zehen" sein?
Ein ehemaliger Ausbildner, ein Gruppen-Psychoanalytiker, hat mir einmal etwas wertvolles mitgegeben: "Wer sich über jemanden 'drüberstellt' ODER 'drunterstellt' - beides (!) - der verlässt den 'Bereich des Menschlichen'". Die "Bewusstmachung" des eigenen "Dreck's zwischen den Zehen", im Sinne einer "Würdigung", könnte ein möglicher Weg sein, um uns wieder zurück in den "Bereich des Menschlichen" zu bringen, sowohl in der Selbst-Beziehung als - und das erscheint mir für uns als "Beziehungstiere" nicht unwesentlich - auch anderen gegenüber. Denn wir können mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass "die Anderen" ebenfalls "Dreck zwischen den Zehen haben" und diesen ebenso entsprechend "würdigen". Das Würdigen des "Gewordenseins", selbst wenn dieses vielleicht hier und heute ab und an mit "Schwierigkeiten in (der Selbst-)Beziehung" verbunden ist - kann uns stärken, so dass wir wieder "auf beiden Beinen zu stehen kommen", "zurückkehren" in unsere volle Stärke, wieder auf alle unsere (Beziehungs-)Ressourcen, unser tatsächliches (breiteres) Verhaltensspektrum zurückgreifen können. Dieser Stolz auf das "eigene Gewordensein" und das "Gewordensein des anderen" ist jedoch nicht in einem "rechtfertigenden Sinn" von "so bin ich, so ist sie/er eben" gemeint, sondern in einem "dynamischen Sinn", als motivierender Ausgangspunkt für die persönliche, die gemeinsame Entwicklung: So wie es die paradoxe Theorie der Veränderung aus der Gestalttherapie von Arnold Beisser besagt: "Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist, nicht wenn er versucht, etwas zu werden, das er nicht ist. [...] Vielmehr entsteht Veränderung, wenn der Klient - zumindest für einen Moment - aufgibt, anders werden zu wollen, und stattdessen versucht zu sein, was er ist. Dies beruht auf der Prämisse, dass man festen Boden unter den Füßen braucht, um einen Schritt vorwärts zu machen, und dass es schwierig oder gar unmöglich ist, sich ohne diesen Boden fortzubewegen." (Beisser, 1995) (Wieder-)Erinnern
Wie kannst du dieses "starke Bild" nun für dich, für deinen (Berufs-)Alltag nutzen? Anbei ein paar Fragestellungen, Assoziationen, Gedanken und Angebote dazu. Vielleicht passen diese für deinen "persönlichen Warenkorb". Falls (noch) nicht, dann lass sie draußen bzw. versuche Wege zu finden, die sich für dich hier und heute stimmiger "anfühlen":
Bin schon gespannt, was dir noch alles einfällt. Gutes Gelingen und ich hoffe du bist ein wenig stolz auf "deinen Dreck zwischen den Zehen" und den deiner "wichtigen Anderen".
Quellen
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