KurvenkompetenzDas klingt alles sehr spannend und fundiert, sehr ausgearbeitet. Diese Selbstreflexion, diese Innenschau, sich mit sich selbst, mit seinen Mustern zu beschäftigen, das fällt manchen so schwer, weil glaube ich die Angst davor groß ist – oder was macht das so schwer? Aus der Gesundheitspsychologie gibt es Modelle, die auf ein paar Punkte hinweisen, wo man draufschauen könnte – die es möglicherweise so schwer machen. Ganz ein häufiger Punkt ist zum Beispiel, dass Selbstsorge überhaupt kein Thema mehr ist, dass es vergessen wird. Wir leben alle in einer sehr herausfordernden Zeit – auch vom Zeitgeist her – viele, viele Anforderungen, Inputs. Gunther Schmid, der Begründer der Hypnosystemik hat den Begriff der „Zuvielisation“ geprägt, den ich recht passend finde. Ja und da kann es in solchen Zeiten passieren, dass „das Selbst“ sich vergisst – in gewisser Weise. Dann gilt es halt wieder jemanden schrittweise dort hin zu führen: Aha, und wie geht es dir jetzt damit? Wieder spüren zu lernen, die eigenen Bedürfnislagen wiederzuerkennen. In der Selbstsorge gibt es auch so eine Art Spektrum. Ich kann zum Beispiel auf einer Skala von 1 bis 10 sagen: Auf 1 bin ich in der „Selbstvernachlässigung“ und bei 10 bin ich möglicherweise auf dem totalen „Ego-Trip“. Da verwende ich in meinen Coachings oder in den Vorträgen oft den Begriff der „Kurvenkompetenz“. Das ich spüren lerne, wo bin ich den auf dieser Skala gerade unterwegs? Spüren, wann es in die Selbstvernachlässigung geht – manchmal gibt es körperliche Symptome, wie schlechterer Schlaf, sorgenvolle Gedanken oder fahriges Verhalten, schnelleres Sprechen, schnelleres, ständiges Tun („Aktionitis“) – fast schon maschinell. Das wären zum Beispiel so Hinweisgeber, im Sinne von: „Achtung jetzt braucht es vielleicht wieder ein wenig Zeit, ein wenig Selbstbetrachtung!“. Wieder hinzuschauen: Wo stehe ich? Wie geht es mir dort? Ist das der Ort wo ich sein will? Brauche ich mehr dieses oder jenes? Und in die andere Richtung genau so, in Richtung „Ego-Trip“. Selbstsorge ist nicht die Idee, dass man jetzt ständig besorgt durch die Welt läuft und sagt: „Ui, hoffentlich mache ich die Selbstsorge jetzt richtig, richtig gut“. Sondern Selbstsorge ist ja auch ein Prozess - wie alles, oder? Ja, auf jeden Fall. Interessant ist ja auch der Begriff der „Sorge“, der indogermanische Wurzeln hat. Da gibt es zwei Bedeutungen und zwar „sergh“ und „suergh“. Zwei unterschiedliche Bedeutungen – die erste, ist diese ängstliche, seelisch belastende Sorge, die wir alle kennen: Ich sorge mich, ich bin besorgt. Die andere Bedeutung ist dieses „kümmern“. Da geht es um ein Verantwortungsverhältnis zu einem anvertrauten Wesen. Dieses anvertraute Wesen wäre im Kontext der Selbstsorge das eigene Selbst. Das natürlich keine fixe Instanz ist, sondern es verändert sich auch, aber es ist eine sehr wichtige, integrierende Instanz von unseren vielen „inneren Anteilen“, die wir "haben". Domänen der SelbstsorgeWenn ich abseits von Coaching mit Selbstsorge anfangen will - kannst du uns da ein Werkzeug in die Hand geben? Du hast schon gesagt: die Selbstbetrachtung, die Selbstreflexion, die Skala von 1 bis 10 – gibt es da etwas, was du uns mitgeben könntest? Da gibt es sehr viel. In habe in meinem Modell 5 Bereiche – ich sage immer dazu die „5 Domänen der Selbstsorge“ identifiziert. Eine Domäne ist zum Beispiel die Selbstfreundschaft, die Selbstbeziehung. Hier ist eben die Frage: Wer bin ich als menschliches Wesen? Eigentlich fast anthropologisch betrachtet. Da gibt es ja viele Ideen dazu. Eine Idee wäre zum Beispiel, dass man sich als „Lernwesen“ sieht oder als „spielerisches Wesen“, als „neugieriges Wesen“. Wir Menschen haben die Fähigkeit zur Veränderung und wir „müssen“ uns ja auch immer wieder in gewisser Weise verändern, weil Konstellationen da sind, die Veränderung fordern. Und in diesen Situationen der Veränderung ist es nicht allzu hilfreich, zu streng zu sich zu sein. Eine maschinelle Metapher von sich selbst zu haben. Das merke ich in den Coachings sehr oft, diese Strenge, diese Selbstentwertung, fast schon „Selbstgeißelungsprozesse“. In solchen Übergangssituationen biete ich Kund*innen oft das Bild eines „jungen Welpen“ an. Dieser ist ständig in Übergangssituationen, in Veränderung, der muss viel lernen, wo er „Pipi-machen“ darf, was er dort darf, was er nicht darf. Stell dir vor, wie du mit so einem lernenden Welpen umgehen würdest? Liebevoll ... Liebevoll – ja! Oder, wenn du dir selbst ein guter Freund wärst, wie würdest du in dieser Situation mit dir umgehen? Ich würde ihm ein angenehmes Umfeld bereiten, ich würde liebevoll sein, ich würde zugewandt sein ... Ich denke das ist ein ganz wichtiger Punkt, diese Selbstbeziehung. Mich zu akzeptieren auch mit meinen „cracks“, die ich habe – ohne perfekte Angebote liefern zu müssen. Nicht den Anspruch haben perfekt sein zu müssen ... Genau – und dann gibt es noch weitere Domänen, zum Beispiel die Viel-Seitigkeit. Da ist mein Angebot seine Vielseitigkeit wiederzuentdecken: die innere und die äußere Vielseitigkeit. In Kontakt zu gehen mit seinen „Seiten“, auch mit jenen, die man vielleicht manchmal gar nicht so an sich mag: die Angst, die Wut oder den Ärger. Oft machen wir es ja eher so wie Herakles bei der „Hydra“. Das vielköpfige Ungeheuer aus der griechischen Mythologie mit den Schlangenköpfen. Wir graben ein tiefes Loch, dann rein mit der „Angst“ und es wird schon nichts mehr passieren. Aber das Problem ist, dass diese Seiten, dann eher größer, dominanter werden. Diese Seiten klopfen dann an im „inneren Wohnzimmer“ und sagen laut: "Hallo! Hallo!". Manchmal hilft es da in den Kontakt mit diesen Seiten zu gehen und man wird möglicherweise merken, dass diese Seiten, zum Beispiel die Angst, auch hilfreich sein will, Hinweise geben will. Diese Angst oder die Wut oder der Ärger wollen gehört werden – oder die Kreativität, Seiten die schon lange nicht mehr „bedient“ worden sind. Bei Menschen die unzufrieden sind könnte es eine Idee sein hinzuschauen, ob man zu einseitig unterwegs ist. Ein Ausbildner der European Systemic Business Academy, wo ich die Coaching-Ausbildung absolviert habe, der Johann Tomaschek, hat immer gesagt: Wir Menschen kommen mit einer Klaviatur zur Welt und dann mit 18, 20, 30, 40 drücken wir Taste C, Taste D und Taste C und Taste D – und jetzt wäre eben die Idee zu schauen, welche Seiten würde ich gerne wieder „spielen“ und schauen was passiert ... Und dann gibt es noch 2 Bereiche: Die Orientierung, sich immer wieder orientieren, Ziele entwickeln, Sinnthemen und ganz wichtig die WIR-Welten: Ich, mein Selbst in Beziehung. Die Idee wäre sich ein gutes Ich-Standbein aufzubauen, um besser in den Beziehungs-Welten zu stehen. Wir kennen das ja im Alltag mit Kindern. Wenn wir als Eltern gut für uns sorgen, dann können wir für unsere Kinder anders verfügbar sein. Ästhetik der ExistenzDie Anforderungen von Außen sind hoch. Wir haben verschiedene und viele Rollen. Du bis ein liebender Familienvater, ein Ehemann, du bist in der Ausbildung zum Psychotherapeut, arbeitest als Coach. Du arbeitest mit ganz unterschiedlichen Gruppen als Coach. Da muss man schon schauen, dass man sein Ich stärkt und sein Ich in die Mitte stellt. Ja, und sich auch zu überlegen: Wie will ich es eigentlich anlegen? Das geht in Richtung Selbstbestimmung, die von Michel Foucault stark ins Zentrum gestellt wurde. Zu versuchen eine eigene "Ästhetik der Existenz“ zu entwickeln. Ich finde diese Idee sehr schön. Eine ganz interessante, neuartige Betrachtungsweise in Anbetracht der heutigen Zeit mit "techniklastigen" Trendbewegungen, wie zB Digitalisierung. Hier zu sagen: Ich stelle „das Schöne“ wieder in den Mittelpunkt meines Lebens. Wie kann ich für mich und meine Familie eine schöne Existenz gestalten? Eine, wo vielleicht am Ende des Lebens ein anderer sagen würde: „Die oder der hat ein schönes Leben gelebt“. Das könnte schon eine interessante Inspiration sein: Seine eigene "Ästhetik der Existenz“ zu entwickeln. Natürlich – die Anforderungen im Außen gibt es. Aber ich will schon der sein, der entscheidet: Diese Anforderung "so", das "mehr so" oder vielleicht gar nicht und nicht alles perfekt (!) – sonst werden wir untergehen und es könnte schwierig werden (lacht). Sich inspirieren lassen - sich ausprobierenEine Frage, die ich zum Abschluss noch gerne meinen Podcast-Gästen stelle: Wie sorgst du selbst für Entspannung? Wie tankst du Energie? (lacht) Wie sorge ich selbst für Entspannung? Also was ich sehr gerne mache, ich stehe ein wenig früher auf und lese. Haue mich in den Hängesessel rein und lese. Ich lese gerne und da habe ich so meine 1-2 oder vielleicht sogar 3 Stunden am Wochenende, wenn die Familie länger schläft und kann dann in Ruhe lesen, mache mir ein wenig Notizen, lasse mich inspirieren. Was ich gerne mache ist Musik. Ich spiele selbst ein wenig Ukulele, da mag ich den Klang. Manchmal eben auch Dinge, die so gar nichts mit meiner Tätigkeit zu tun haben, sondern mir einfach gut tun – warum auch immer sie mir gut tun. Das möchte ich dann gar nicht so genau wissen (lacht). Was für mich von der Profession her wichtig ist, dass ich Supervision in Anspruch nehme, um dann Themen, die in der Begleitung bei mir „aufpoppen“ bearbeite – meine blinden Flecken, meine Muster. Für mich ist das eine Art der Selbstsorge, weil ich mich da besser kennenlerne und dann manche belastenden Situationen in der Begleitung einfach anders „nehmen kann“. Weiterbildung, Entwicklung, Selbstreflexion ist ganz wichtig in diesem Bereich. Was gibt es noch? Ja, schon – Sport ist irrsinnig wichtig. Spielst du heute noch gerne Fußball? Ja, witzigerweise habe gestern ein wenig „gegaberlt“ im Hof. Das mache ich recht gerne. Oder mit den Kindern – da haben wir jetzt so ein kleines Tor im Garten, wo wir Handball spielen. Regelmäßig unregelmäßig fahre ich mit dem Ergometer. Das ist für mich so ein ganz stupides Fahren, eine halbe, dreiviertel Stunde und ich habe das Gefühl, dass ich da runter gehe von diesem Gerät und ein komplett anderer Mensch bin. Ich habe dann andere Ideen, gewisse Dinge, die vorher sehr eng waren in der Wahrnehmung weiten sich – durch die Bewegung. Das ist meins und ich denke jeder hat da so seine Bewegung, die für sie oder ihn hilfreich ist. Das ist etwas, was man einfach spüren kann – ausprobieren. Sich inspirieren lassen. Ein gutes Stichwort – Danke für deine vielen Inspirationen, danke für deine vielen Impulse. Alle Bücher und Anregungen werden wir im Podcast in die Shownotes stellen. Vielen, vielen Dank, dass du da warst und dir die Zeit genommen hast. Ich sage Danke! Vielen Dank! Selbstsorge-Kompetenz stärkenManchmal kann es hilfreich sein gemeinsam, methodisch geführt, in einem geschützten, neutralen Rahmen seine Selbstsorge-Kompetenz weiterzuentwickeln. Mehr zum Coaching-Angebot von OriginalWerk finden Sie hier. Lust auf Inspiration?Interaktive Kurzworkshops in der Kleingruppe (mit max. 6 Personen) zu relevanten Aspekten der Selbst(für)sorge. Inhaltliche Impulse und praktische Anregungen, etwas zum "mitnehmen" für Ihre aktuellen und zukünftigen Lebens-Anforderungen und Herausforderungen. Aktuelle Termine und Anmeldung unter: www.OriginalWerk.at/Impulse Literaturempfehlungen
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AusrichtungIn diesem Blog verschriftliche ich hilfreiche Impulse im Zusammenhang mit meiner Tätigkeit im Life- & Business-Coaching, Counseling, Sparring: Persönliche Erlebnisse, Inspirationen, konkrete Anregungen für Ihren persönlichen Weg der Selbstsorge und ein gutes Miteinander.
Falls Sie lieber hören, statt lesen - gerne! Ausgewählte Beiträge stehen Ihnen auch im OriginalWerk Podcast "Selbstsorge-Impulse" zur Verfügung. Informationen zum Angebots-Spektrum von OriginalWerk, sowie meinem Hintergrund finden Sie unter:
www.OriginalWerk.at Viel Freude beim stöbern wünscht Ihnen, Mag. (FH) Gregor Butz Archiv
Juni 2024
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